
Geschichte der Juden in Warschau 1527 bis 1795
Das ist der zweite Teil aus der Reihe Die Geschichte der Juden in Warschau. Dich könnten auch folgende Beiträge interessieren.
Juden in Warschau 1527 bis 1795De non tolerandis Judaeis
Wie wir im ersten Teil unserer Reihe Die Geschichte der Juden in Warschau gesehen haben, wird die Region Masowien, somit auch Warschau, 1526 Eigentum der polnischen Krone. Als unmittelbare Folge unterstand die neu gegründete Wojewodschaft Masowien einem neuen Rechtssystem. Von nun an regelte der König von Polen die Ordnung in den masowschen Städten, verlieh Rechte und belegte sie mit Pflichten. Eines der zahlreichen Privilegien war das königliche Edikt de non tolerandis Judaeis. Dieses Privileg verbot den Juden sich auf dem Gebiet der Alten wie Neuen Stadt und im Umkreis von knapp 14 Kilometern (damals 2 Meilen) niederzulassen. Das betraf auch die östliche Seite der Weichsel. Das hatte zur Folge, dass sie die Stadt verlassen mussten. Die Bürger der Stadt haben ihr Ziel erreicht und übernahmen die Kontrolle über die lokale Wirtschaft. Die Vertriebenen zogen in die nächstgelegenen Ortschaften wie Czersk, Pultusk, Blonia oder Nadarzyn. Sie lebten dort mit der Hoffnung bald wieder zurückkehren zu können.
Trotzdem sind sie hier!
Ein solches Privileg konnte nur den der Krone zugehörigen Städten verliehen werden. Warschau war nicht die einzige königliche Stadt, die ein solches Privileg erhielt. Auch in Vilnius oder Krakau durften sich die Juden nicht auf dem Stadtgebiet aufhalten. In Krakau jedoch gab es die Stadt Kazimierz mit dem entgegengesetzten Privileg de non tolerandis Christianis, also einem Viertel, in welchem sich Christen nicht niederlassen durften. Die Existenz der Juden auf Warschauer Boden schien auf den ersten Blick rechtlich und faktisch besiegelt zu sein. Die nachfolger von Sigismund II. dem Alten, der der Stadt Warschau als erster ein solches Privileg verlieh, bestätigten den Bürgern ihre Rechte.
Die Juden verschwanden jedoch nicht völlig, blieben z.T. weiterhin in der Stadt und ihre Zahl wuchs sogar ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert sehr stark an. Für diese unerwartete Entwicklung gibt es vor allem drei Gründe.
Warschau wird politisches Zentrum des Königreiches

Wahl von August dem Starken zum König von Polen 1697. Im Hintergrund das Königsschloss von Warschau.
Anfang des 15. Jahrhunderts war Warschau ein kleines und unbedeutendes Städtchen an der Weichsel. Der Herzog von Masowien zieht von Czersk nach Warschau, weil die Weichsel bei Czersk ihren Verlauf veränderte und der einstigen Hauptstadt der Region ihren genius loci wegnahm. 1526 wird Warschau Hauptstadt der neu gegründeten Wojewodschaft im Königreich Polen und drei Jahre später tagt hier der Sejm, das Parlament. 1569 wird schließlich beschlossen, dass Warschau die alleinige Sejmstadt und Ort der Wahlen der Könige von Polen wird. Der 1587 gewählte König von Polen und Großfürst von Litauen (bis 1632) sowie König von Schweden (bis 1599) verlegte den königlichen Hof von Krakau nach Warschau. Der offizielle Grund war ein Brand auf dem Wawelberg. Inoffiziell verlor Krakau an Einfluß zu Gunsten Warschaus und wurde auf diesem Wege zur Krönungsstadt degradiert. In Warschau wählte man die Könige, hier tagte der Generalsejm Polens und Litauens, der Masowsche Adel gewann immer mehr an Einfluß und von Warschau, welches (fast) in der Mitte des Landes lag, ließ sich die Republik besser regieren. Das machte Warschau auch zum Anziehungspunkt für die Magnaten und den höheren Adel. Bis 1795 baute Warschau seine Dominanz in der Königlichen Republik Polen-Litauen noch weiter aus.
Das Edikt führte in seinen Bestimmungen eine Ausnahme, dass nämlich während der Sejmtage, welche sogar einige Woche oder auch Monate dauern konnten. Inbegriffen waren auch die Freien Wahlen der Könige von Poeln auf den Feldern des Dorfes Wola, nur einige Kilometer von Warschau entfernt. Heute befindet sich in der Nähe das moderne Business District Center. Besonders privilegiert waren diejenigen Juden, die im Auftrag des königlichen Hofes handelten.
Für die Stadtverwaltung war es unmöglich das Verbot durchzusetzen, weil sie keine Mittel hatte, um sich erfolgreich durchzusetzen. Die Juden merkten schnell, dass sie zwar von den Bürgern keine gern gesehenen Gäste waren, aber dafür umso mehr von den Adeligen in Schutz genommen wurden. Somit kommen wir auch zum zweiten Grund.
Juridika, private Städte der Adeligen
Durch die wachsende Position der Stadt im Lande zogen viele Ausländer aus Deutschland, Italien, Holland, Böhmen und sogar aus den östlichen Gebieten des Königreiches in die neue Hauptstadt.* Mit ihnen kamen auch die polnischen Magnatenfamilien sowie Angehörige des höheren Adels (szlachta). Mit ihnen fand die jüdische Bevölkerung einen starken Verbündeten, der die Stärken der Juden zu schätzen wusste. In ihren privaten Städten, Juridika genannt, die vor allem ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gegründet wurde und sich auf rechteckigen Feldern um die Altstadt herum erstreckten, konnten sich die Juden auch außerhalb der Sejmtage und Wahlen aufhalten. Diese Siedlungen vor den Toren der Stadt unterstanden weder der städtischen Gerichtsbarkeit noch Verwaltung. Sie standen im Eigentum eines Adeligen, meist Magnaten, oder der Kirche. Die Juridika waren ein ernstzunehmender Konkurrent für die Städte, da sie durch keinerlei Gesetze beschränkt waren. Die Eigentümer hatten hier freie Hand in der rechtlichen wie strukturellen Gestaltung. Was auch bedeutete, dass sie hier entgegen des Privilegs de non tolerandis Judaeis auch Juden ansiedeln konnten. Der Grund für diese Asylpolitik war der materielle Vorteil, den man damit erwarb. Man wollte die Händler und Bänker in der Nähe haben.
Ein klassisches Beispiel für eine Juridika, die nur deshalb gegründet wurde, um dort Juden anzulocken, war Neues Jerusalem von Józef Potocki im Jahre 1774. Sie wurde nach nur zwei Jahren verboten und zerstört, zeigt allerdings welche Möglichkeiten die Magnaten hatten und auch nutzten.
Mit der Zeit waren sogar die Bürger gegen das Verbot und vermietete immer öfter die Stuben an die jüdische Bevölkerung, um daraus Profit zu schlagen. Der Rat war machtlos.
*Offiziell blieb Krakau weiterhin die Hauptstadt des Königreiches Polen. Daher fanden auch dort die Königskrönungen statt. Dieser Schwebezustand wurde erst mit der Verfassung vom 3. Mai 1791 geregelt. 1952 wurde Warschau offiziell zum ersten Mal als Hauptstadt bezeichnet.
Rechtliches Chaos
Die Stadt Warschau war notorisch unterfinanziert. Es fehlten ihr stets die nötigen Personen, um ihre Privilegien und Rechte durchzusetzen. Damit hängt u.a. die schwache Position aller Städte und ihrer Bürger in der Königlichen Republik Polen-Litauen zusammen. Die politische Kontrolle über das polnische Staatswesen übernimmt im 16. Jahrhundert der Landadel, ab der Mitte des 17. Jahrhunderts schließlich die Magnaten. Warschau behielt daher bis ins 19. Jahrhundert das privilegium de non tolerandis Judaeis, doch überschneidet sich dieses mehrmals mit anderen Regelungen des Sejm und des eben genannten Magnatentums. Vor allem zwei Edikte haben sehr großen Einluss auf die Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Warschau. Zunächst beschließt der Sejm 1775, dass Juden, die sich auf nicht bewirtschaftetem Land ansiedeln, Steuervergünstigungen erhalten. Die Wojewodschaft Masowien wurde von diesem Beschluss eingeschlossen, ausgeschlossen war jedoch Warschau. Es begann ein langer und folgenreicher Siedlungsprozess der Juden in Masowien, aber auch im Warschauer Umland, also vor allem in den Juridika.
Noch im selben Jahr folgt das nächste schwerwiegende Gesetz, welches von dem unter russischeer Ägide stehenden Ständigen Rat (die höchste administrative Institution in der Königlichen Republik Polen-Litauen zwischen 1775 und 1789) verkündet wird und besagte, dass die Juden sich in Masowien bis zu den Schutzwällen von Warschau ansiedeln und Einzel- wie Großhandel treiben durften. Der Stadtrat war mit dieser Entscheidung nicht einverstanden, weil damit gegen die 2-Meilen-Regelung verstoßen wurde.
Ab 1778 erhalten die Juden die Möglichekti der Einreise und Übernachtung auf der Gebiet der Altstadt gegen Entrichtung einer Einreisesteuer. Frauen und Kinder waren von dieser Möglichkeit ausgeschlossen. Diese Einreisebestimmung wird 1784 vom Marschall von Polen mit der sogenannten Ordination für die Stadt Warschau hinsichtlich der Juden auf weitere Personengruppen ausgeweitet. Auf dem Stadtgebiet durften sich der Leiter der jüdischen Verwaltungsamtes und deren Angestellten, die Fleischer und Garköche, die das Essen koscher zubereiteten, und Handwerker mit der speziellen Berufen wie die Flexografen oder Erzscheider, dauerhaft ansiedeln.
Der Widerstand gegen die Staatsmacht blieb folgenlos.
Die Einwohnerentwicklung der jüdischen Bevölkerung
Die Anzahl der Juden in Warschau und auch in den umliegenden Privatsiedlungen blieb bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts relativ klein und oszilierte zwischen 6 – 8 Prozent. Es gibt nur wenige Dokumente, die eine genaue Auskunft über die Anzahl der Juden in Warschau und Umgebung geben können. Zusätzlich ist die Zahl der Juden in den Juridika ebenfalls nicht erfasst, könnte aber dazu führen, dass der prozentuale Anteil erheblich höher war.
Ab den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts wächst die Zahl der Juden erstaunlich schnell, was sicherlich mit der judenfreundlichen Politik des letzten Königs von Polen Stanislaw August Poniatowski zusammenhängt. Er war er auch, der den Aufenthalt der Protestanten in der Stadt legalisierte.
1764 lebten in Warschau nach offiziellen angaben 2519 Juden. 1792 waren es schon ca. 7000. Der Großteil dieser Juden – fast 3000 – tummelte sich in der Nähe des ehemaligen Marywil und entlang der Straßen Senatorska, Daniłowiczowska, Bielańska und Długa. Auch wurde die 1776 zerstörte Juridika Neues Jerusalem erneut gegründet. Trotz der Verbote und der antijüdischen Haltung der Bürger entwickelte sich Warschau in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum jüdischen Siedlungszentrum in Masowien.
Juden werden zu Konkurrenten
Es herrscht ein allgemeiner Mythos, dass Juden schon immer Banker waren und vor allem gut bezahlte Berufe ausübten. Auch wenn die westeuropäischen eine andere kulturelle Prägung hatten, waren es dort und vor allem in Osteuropa meistens arme Gruppen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein waren die meisten Juden sogenannte Betteljuden, die in ihrer orthodoxen Lebensweise kaum Eingang in die höheren Gesellschaftsschichten erhielten. Die Haskala, also die jüdische Aufklärung und somit Öffnung gegenüber den Heimkulturen begann in Preußen erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und breitete sich im Laufe der Zeit auch auf das Nachbarland Polen-Litauen aus. Diese Bewegung ermöglichte den Juden erst den Kontakt mit der Welt der europäischen Wissenschaft.
Dieser Wandel vollzog sich jedoch sehr langsam. Daher verwundert es nicht, dass die meisten Juden in Warschau 1792 Handwerker waren, erst an zweiter Stelle kommen Händler, wovon nur eine kleine elitäre Gruppe zu den Bänkern, die große Kredite verteilten, gehörten.
Handwerker | 39,4 %
Die Mitglieder eine Zunft in jeder Stadt waren an sehr strenge und steife Organisationsstrukturen gebunden. Auch konnten sie nicht jeden Einstellen, den sie wollten. Die Juden, die außerhalb der Stadt wohnten, genoßen die Vorteile der relativ freien Berufsausübung und stellten ihre nicht-qualifizierten Familienmitglieder bei der Herstellung ihrer Produkte ein. So konnten sie wesentlich mehr mit wesentlich niedrigeren Kosten produziere.
Im Schneiderhandwerk und der Kürschnerei führte die Aktivität der Juden sogar zur beinahen Auflösung der städtischen Produktion. Da halfen auch gezielte Pogrome nicht.
Handel | 36,5 %
Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts erfuhren die jüdischen Händler einen starken sozialen Aufstieg in Warschau. Das schnelle Bevölkerungswachstum und die damit einhergehende Grenzerweiterung sprengten die Festigkeit der alteingesessenen Händlerfamilien und zwangen sie nicht nur die Ausländer sondern auch die Juden Eintritt zu gewähren in ihre Reihen.
So war 1792 schon fast jeder Dritte Händler oder Kaufmann ein Jude. Aus dieser Zeit stammen die bekanntesten Vertreter der jüdischen Kaufmannsfamilien Szmul Zbytkower, die Brüder Jakub und Simon Simonis, Józef Mirkowicz, Szaj Wolfowicz, Nut Markowicz sowie Herszk Boruchowicz.
Garköche und Wirte | 8,4 %
Beamten, Bettler und andere | 15,7 %
Die Juden waren weiterhin als Beamten (4,1 %), Lehrer und Erzieher (3,1 %), Bettler (2,2%), Bedienstete (2%), religiöse Funktionäre (2%), Ärzte und Apotheker (1,2%) und in sonstigen Berufen (1,1%) tätig. Dennoch hatten bis zu 38 Prozent einen viel zu geringen Lohnertrag, um davon leben zu können.
Der Kosciuszko-Aufstand 1794
Im Jahre 1768, während der Regierungszeit des letzten polnischen Königs Stanislaw August Poniatowski, erhielten die Juden das Recht sich auf dem Gebiet Masowiens niederzulassen. Die Zahl der Juden in dieser Region war Anfang des 18. Jahrhunderts sehr gering. Noch bis 1768 kann nicht von einer organisierten Siedlungsformen wie zum Beispiel der Gründung einer Jüdischen Gemeinde gesprochen werden.
Der Aufstieg der Juden im Handel und Handwerk führte derweilen zu einem sozialen Problem, welches von der polnischen Führungselite erkannt und gelöst werden musste. Die Chance dazu hatte man während des Vierährigen Sejm. Doch in Anbetracht der nahezu unmöglich zu lösenden politischen wie wirtschaftlichen Fragen blieb auch die Judenfrage ohne Lösung.
Schließlich folgte der fehlgeschlagene Kosciuszko-Aufstand von 1794 und Dritte Polnische Teilung von 1795. Ein unabhängiges Polen entstand erst wieder am 11. November 1918.
Während des Kosciuszko-Aufstandes blieben nicht alle Juden untätig. Der jüdische Kaufmann Berek Joselewicz und Josef Aronowicz stellten ein Jüdisches Regiment einer leichten Kavallerie mit Erlaubnis des Anführers des Aufstandes Kosciuszko auf. Am 17. Oktober 1794 sprach er zu seinen Soldaten: „Hört her, Kinder des Volkes der Israeliten!. Wer Gott den Allmächtigen in seinem Herz trägt und dem Vaterland zur Seite stehen will, was jeder tun sollte, der hat nun die Möglichkeit dies zu vollbringen. Wer die Freiheit erlangen will und wer sich um der Freiheit verdient machen will, der kämpfe für das Vaterland, solange in ihm das Blut noch fließt.“
Leider wurde die Einheit während des Massakers von Praga am 4. November von der russischen Armee vernichtet. Berek Joselewicz und ein handvoll Soldaten konnten fliehen.
Das Ende der Königlichen Republik 1795
Nach dem Massaker von Praga und der Niederschlagung des Kosciuszko-Aufstandes folgte am 25. November 1795 die Abdankung des Königs Stanislaw August Poniatwoski. Die Königliche Republik Polen-Litauen hört nach 226 Jahren auf zu existieren. Polen verschwindet gänzlich von der politischen Landkarte Europas. Die Russen übernehmen von nun an die Kontrolle über große Teile des ehemals großen Königreiches und vor allem über Warschau.
Das Warschauer Magistrat schickt sofort seine Vertreter zu den neuen Herren mit der Aufforderung, die alten Rechte zu bestätigen. Der russische Kommandant Friedrich Wilhelm von Buxhoeveden sah jedoch keine Möglichkeit die Juden aus Warschau zu vertreiben und brauchte zudem jede arbeitende Hand für die Ausstattung der Armee. Er entschied sich für eine Zwischenlösung. Die Einreisetickets blieben bestehen, jedoch konnte ein großer Teil der Juden, die sich beim Einmarsch der russischen Armee auf dem Stadtgebiet aufhielten, weiterhin in der Stadt bleiben. Sie durften in Warschau handeln, davon ausgeschlossen waren jedoch die Markplätze der Alten wie Neuen Stadt und einiger weniger Straßen (Krakowskie Przedmiescie, Miodowa, Piwna, Dluga und Podwale).
Quellen
Karol Morawski: Kartki z dziejow Zydow warszawskich [Die Geschichte der Juden in Warschau] , Warschau 2011, Wydawnictwo Nowy Swiat, ISBN 978-83-7386-421-4 [polnisch].
Gemeinschaftswerk: Warsze – Warszawa. Zydzi w historii miasta 1414-2014 [Warschau. Juden in der Geschichte der Stadt 1414-2014], Warschau 2020, Jüdisches Historisches Institut, ISBN 978-83-66485-28-0 [polnisch].